Jeder darf meinen und glauben, was er will, auch zu komplexen Themen und bei gleichzeitig völliger Ahnungslosigkeit. Ein merkwürdig häufiges Phänomen, bei dem unklar ist, ob es sich hier um eine Eigenart unserer Zeit handelt oder es wegen der sozialen Medien nur besonders auffällt. Dort werden lautstark blitzschnell gewonnene Eingebungen mit festem unverrückbaren Standpunkt vertreten, obwohl absolute und auf ewig gültige Eingebungen eigentlich nur Religionsgründern vorbehalten sind. Ein Satire Beitrag brachte diese Eigentümlichkeit während der Coronapandemie, als der Nahostkonflikt mal wieder ausgebrochen war, auf den Punkt:
“Rekord!
In 24 Stunden 80 Millionen Virologen zu Nahost-Experten umgeschult!”
Als vermeintlicher Universalgelehrter in den sozialen Medien unterwegs zu sein, ist das eine. Aber die Frage, inwiefern man gut beraten ist, auf einer solchen Basis relevante und wichtige Entscheidungen zu treffen, muss jeder für sich selbst beantworten. Etwa bei Fragen zur eigenen Gesundheit bzw. Genesung.
Es scheint, dass vor allem Themen betroffen sind, bei denen besagte Personen zumindest den Eindruck haben, es handele sich um einen relativ simplen Sachverhalt, der blitzschnell bis auf den Grund durchdrungen werden kann. Aber nicht alles ist so simpel, wie es einem Laien auf den ersten Blick erscheinen mag. So haben viele Patienten bezüglich Physiotherapie naturgemäß eine eher schlichte und vor allem mechanische, und damit eine völlig veraltete und widerlegte Vorstellung davon worin ihre Problematik (in der Regel) besteht und wie ihr am besten beizukommen ist. Leider ist es in Deutschland, trotz international gültiger und davon stark abweichender Leitlinien, noch immer verbreitet genau auf dieser Basis zu behandeln. Zum Glück selten, aber es kommt immer mal wieder vor, dass Patienten schnell enttäuscht sind, wenn der Therapeut einen anderen Ansatz als den gedachten oder gewohnten wählt. Gelegentlich brechen Patienten deswegen so schnell die Therapie ab, dass der Therapeut nicht einmal die Gelegenheit hatte, seine Arbeit schlecht zu machen.
Sätze wie “Aber der Arzt hat doch gesagt… / ein anderer Therapeut hätte gesagt… / XY hat gesagt… / ich habe aber gelesen… / in Sendung … wurde …” sind fast tägliche Begleiter unserer Arbeit.
Entscheidend ist aber nicht, wer was gesagt hat, sondern welche Position sich mit den aktuellen und als gesichert geltenden, also belegten wissenschaftlichen Erkenntnissen, decken. Und an denen haben sich per Gesetz alle Ärzte und Therapeuten zu orientieren.
Evidenzorientiert heißt das.
Der Unterschied zu anderen Industrieländern ist vor allem der, dass es speziell in Deutschland keinen interessiert, ob nach diesem Gesetz verfahren wird oder nicht. Die Folge von verbreiteter Anwendung wissenschaftlich widerlegter Behandlungstechniken ist die, dass in Deutschland, trotz großem Abstand den meisten Physiotherapeuten im Verhältnis zur Bevölkerungsgröße weltweit!, dennoch fast alle Praxen sich vor Patientennachfragen kaum retten können und Landauf sowie Landab extremer Therapeutenmangel beklagt wird. Aus Sicht der Wissenschaft hat Deutschland aber keinen Therapeutenmangel, sondern einen Qualitätsmangel in der Physiotherapie. Chronisch kranke Patienten, die immer wieder oder gleich durchgängig Therapie benötigen, werden so regelrecht herangezüchtet. Und wenn Patienten, die meinen sie würden sich auskennen, tatsächlich aber lediglich “herkömmliche” Therapieansätze kennen oder durch fachlich fragwürdige Medienbeiträge indoktriniert sind, in eine Praxis kommen die sich um evidenzorientierte Therapie bemüht, dann kann es schwierig werden.
Ein Beispiel:
Es kommt vor, dass ein Patient sich darüber beklagt, dass der Therapeut beispielsweise kaum mechanische Tests durchführt, wo der Patient doch zu wissen glaubt, es läge eine mechanische Problematik vor, Bandscheibenvorfall etwa. In einer anderen, vermeintlich guten Praxis hat er vielleicht gelernt, wie aufwändig und zahlreich differenzialdiagnostische Tests sind, um möglichst genau zu ermitteln, wo genau und wie sich die Problematik darstellt. Und solche Tests vermisst er nun und meint einschätzen zu können, dass der Therapeut sträflich nachlässig ist und bricht möglicherweise deshalb die Behandlung ab. Üblicherweise hat der Patient bezüglich der Qualitätsmaßstäbe für medizinische Tests noch nie von Begriffen wie Spezifität, Sensitivität, Reliabilität, Inzidenz, Prävalenz usw. gehört und welche Werte für die jeweiligen (erwarteten) Tests hier einzutragen sind. Mutmaßlich haben auch sehr viele Physiotherapeuten, zumindest in Deutschland, davon auch noch nichts gehört. Tatsächlich haben sehr viele gängige, also verbreitete Tests keine Aussagekraft und sind wertlos. Und ohne sorgfältige Vorselektion, bei welchen Patienten man genau welchen Test durchführt, führen Teste nahezu durchgängig zu unbrauchbaren Ergebnissen.
Was sagt etwa ein SLR (Straight Less Raise Test) aus? Dieser Test dürfte den meisten bekannt sein. Er zeigt mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit eine bestehende radikuläre Symptomatik in der Lendenwirbelsäule positiv an, etwa Bandscheibenvorfall. Aber er zeigt sehr viele Patienten, die keine radikuläre Symptomatik haben, ebenfalls als positiv an. Das muss man aber wissen.
Was kann man daraus nun ableiten?
Ganz einfach:
Ist der Test positiv, sagt das wenig aus.
Ist der Test aber negativ, können radikuläre Beschwerdeursachen weitgehend ausgeschlossen werden.
Tatsächlich kommt es immer wieder vor, dass gerade die Merkmale, die auf eine sorgfältige Therapie hinweisen, verwendet werden, um umgehend alle Termine abzusagen. Details können auf der Startseite unten bei “Was sind die Merkmale guter Physiotherapie?” nachgelesen werden.
Was passiert da?
Besagte Patienten sind mitunter der Meinung, dass schon beim ersten Behandlungstermin eine Behandlung erfolgen muss. Entweder hat er sich das einfach mal so gedacht und glaubt das beurteilen zu können, oder hat das so in anderen Praxen erfahren. Und vielleicht hat ihm das damals ja “so gut” getan. Nun sollte eine medizinische Einrichtung eigentlich kein Wellnesstempel sein und tatsächlich “gut” tun sehr häufig nach wissenschaftlichen Kriterien Behandlungsmaßnahmen, die bestenfalls kurzfristige Effekte haben, Massagen oder Manuelle Therapie etwa. Und weil diese Maßnahmen aber “so gut” getan hätten, möchte der Patient genau diese wieder wenn die Beschwerden wieder aufgetreten sind. Irgendwoher müssen schließlich die vielen Dauerpatienten kommen. Nachhaltig wirksame Therapien sind andererseits meistens für Patienten aufwändig, anstrengend und erfordern dauerhafte Disziplin. Und die Therapie besteht in der Hauptsache darin, ihm genau diese Fähigkeiten beizubringen.
Es geht auch umgekehrt, je nach Beschwerdebild kann die effektivste Behandlung außerordentlich simpel sein. Mitunter muss der Patient nur ein oder zwei Übungen selbst ausführen, dann wird das wieder. Anstatt darüber froh zu sein, kommt es vor, dass diese wegen der ausgebliebenen Behandlungs-Show ganz enttäuscht sind und glauben, der Therapeut hätte nichts drauf.
Es ist nunmal so, dass neben etwas Verwaltung eine Anamnese und Untersuchung sowie die Dokumentation zwingend notwendig ist. Sofern irgend möglich, wird der Patient noch aufgeklärt, welcher Therapieweg warum zu empfehlen ist.
Die gesetzlichen Kassen bezahlen 15 Minuten Behandlungszeit brutto, also alles inklusive. Die Zeit, die darüber hinaus aufgewendet wird ist grundsätzlich unbezahlt und kann daher nur sehr begrenzt sein. Ich erlebte es schon, dass ich sogar 45 Minuten in eine aufwändige Erstbefundung investierte, quasi 3 Behandlungseinheiten, aber nur eine vergütet wurde, und der Patient danach alle weiteren Behandlungen absagte, “weil ja nichts gemacht worden wäre”.
Da fragt man sich schon, warum man so viel unbezahlte Zeit in eine gute Therapieplanung investiert.
Die Vorgaben der Kassen machen eine moderne Therapieplanung nicht gerade einfacher. Im Grunde sind sie auf viele relativ dicht folgende Behandlungseinheiten ausgelegt. Besser wäre es, wenn der Therapeut frei über ein Zeitkontingent entscheiden dürfte. Andererseits haben entsprechende Praxisversuche gezeigt, dass Physiotherapie-Praxen sehr häufig dieser Verantwortung nicht gewachsen sind. Sie sind es gewohnt, möglichst viele Behandlungen über möglichst viele Folgeverordnungen abzuarbeiten. Eine effektive Therapie mit nachhaltiger Besserung und vor allem Selbständigkeit (Selbstmanagement) der Patienten ist gar nicht deren Ziel. Das ist den Therapeuten nicht unbedingt bewusst, ist aber die Folge von Behandlungsstrategien, die völlig überholt und widerlegt sind. Aber auch das Honorarsystem der Kassen ist genau darauf ausgelegt. Der Laden muss brechend voll sein, sonst kommt man wirtschaftlich nicht über die Runden, und das ist mit Dauerpatienten am zuverlässigsten zu erreichen.
Jedenfalls sollten Patienten meiner Ansicht nach es so sehen, dass ein Rezept ein gewisses Zeitkontingent enthält, in der Regel 2 Stunden, allerdings auf 6 Einheiten verteilt. Danach kann er vielleicht einschätzen, ob der eingeschlagene Therapieweg erfolgversprechend sein kann und nicht nach den ersten paar Minuten, bevor die eigentliche Therapie überhaupt begonnen hat.
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