Es gibt zwar regionale Unterschiede, aber generell kann man festhalten, dass es in Deutschland schwer ist überhaupt, zumal zeitnah, Behandlungstermine in der Physiotherapie zu bekommen. Ewig lange Wartelisten sind die Regel, sehr oft werden gar keine Patienten mehr angenommen oder nur Termine in einigen Wochen und gar Monaten angeboten. Deutschlandweit wird über massiven Therapeuten- und Mitarbeitermangel geklagt, Besserung ist nicht in Sicht.
Gleichzeitig kann man auch festhalten, dass im Verhältnis zur Bevölkerungszahl und bezogen auf Ganztagsequivalente Deutschland doppelt soviel Physiotherapeuten beschäftigt wie das Industrieland mit den zweitmeisten Physiotherapeuten. Und in anderen Industrieländern wird der Therapeutenmangel keinesgwegs als dramatischer als in Deutschland empfungen, falls überhaupt. Und eine Unterversorgung wird auch nicht als wesentliches Problem gesehen.
Wie kann das sein?
Die Therapiepläne ambulanter Physiotherapiepraxen, speziell in Deutschland, sind extrem häufig mit Dauerpatienten belegt, manche Praxen zu 100 %, 70 % — 80 % dürfte die Regel sein. Ein sehr großer Teil der Patienten haben ein Lymphödem die entsprechend dauerhaft Lymphdrainage erhalten. Neurologische Patienten mit dauerhaften Erkrankungen und auch orthopädische Patienten mit chronischen Rückenbeschwerden sind häufig Dauergäste. Da bleibt nur wenig Platz für Patienten mit akuter Problematik. Auch schwören diese Dauerpatienten generell „wie gut“ ihnen die Behandlungen täten.
Und was ist nun der Unterschied zu den anderen Industrieländern?
Kurz gesagt, die Wirkung der Behandlung!
Evidenz bedeutet bewiesene Tatsache, in der Wissenschaft zumindest solange, bis etwas anderes bewiesen wurde. Und seit gut 20 Jahren werden zunehmend wissenschaftliche Studien die die Wirkung der verschiedenen physiotherapeutischen Behandlungsmethoden beleuchten erstellt und veröffentlicht. Im Ergebnis kann man zusammenfassen, dass nahezu alle in Deutschland verbreitete und übliche Behandlungsmethoden keine Evidenz haben, also keine nachhaltige Wirkung nachweisen können.
Unsere zahlreichen Dauerpatienten schwören zwar darauf, „wie gut“ ihnen die Behandlungen täten, aber gesund werden Sie nicht, auch wird keine anhaltende Besserung erreicht, deshalb sind sie auch Dauerpatienten. Und genau das ist in anderen Indusrieländern anders.
Die evidenzorientierte Physiotherapie in Deutschland hat auch damit zu kämpfen, dass die Überzeugungen vieler Patienten welche Ursachen Ihre Beschwerden haben und was helfen könnte, schlicht falsch sind und manche sich nicht oder nur schwer überzeugen lassen wollen. In den Medien und im Internet und auch von ärztlicher Seite werden extrem häufig Mythen verbreitet die eindeutig widerlegt sind.
Ich zähle hier ein paar Beispiele auf:
- Manuelle Lymphdrainage (MLD)
Die komplexe Entstauungtherapie für Lymphödeme beinhaltet die Kombination von 3 Maßnahmen die in dieser Kombination tatsächlich nachweislich wirken, wobei die MLD selbst dabei mit Abstand die schwächste Wirkung hat. Werden aber nur die beiden anderen Maßnahmen ohne MLD angewendet (Kompression und Bewegung/Training) ist die Wirkung nachweislich nicht schlechter. MLD ist demnach fast immer überflüssig. Und sehr oft wird dauerhaft nur MLD allein verordnet. Die angenehmste Anwendung und gleichzeitig eine passive die zwar am meisten „gut tut“ aber am wenigesten bis gar nicht hilft, etwa kurz nach Operationen. Etwas Ausführlicher werde ich in einem eigenen Beitrag hier im Physioblog, Link oben. - Vojta, Bobath, PNF (KG-ZNS, Behandlungsmethoden speziell für neurologische Erkrankungen)
Die gesetzlichen Krankenkassen erkennen diese Behandlungsmethoden schon sehr lange als bevorzugte Behandlung für solche Krankheiten an und vergüten diese höher. Voraussetzung um diese Behandlungen abgeben und überhaupt Rezepte damit annehmen zu dürfen ist jeweils eine lange, teure und aufwendige Fortbildungsserie mit bestandener Prüfung. Entsprechend oft werden diese Anwendungen nun auch verordnet und sehr viele Therapeuten absolvieren natürlich diese Fortbildungen.
Allerding können diese Behandlungstechniken bei neurologisch erkranken Patienten keine wesentliche Wirkung nachweise, haben also keine Evidenz. Tatsächlich wirken andere Behandlungsansätze deutlich besser.
Zitat aus einer Studien-Übersichtsarbeit die die Wirkung dieser Behandlungstechniken beleuchtete:
„Nur PNF wirkt noch schlechter als Bobath, und Vojta nicht besser“. Nun haben zahlreiche Therapeuten mit großem Aufwand aber diese Behandlungsmethoden gelernt und möchten auch die entsprechende Vergütung erhalten. In der Folge kommen also gerade bei diesen Patienten die Behandlungsmethoden mit der schlechtesten Wirkung zur Anwendung. - Manuelle Therapie (MT)
Ganz vereinfacht gesagt, ist das eine Behandlungsmethode bei der der Therapeut Hand an den Patienten legt und etwas macht. Das dürfte das sein, was in aller Regel von den Patienten auch erwartet wird. Massieren, manipullieren von Wirbeln und andere Gelenken (einrenken) usw. Der Grundgedanke ist dabei der, dass der Therapeut strukturelle Änderungen im Gewebe des Patienten auslösen kann und sich die Beschwerden dadurch verbessern. Tatsächlich sind vorübergehend, teilweise auch sofortige Besserungen möglich, was viele Patienten dann zu der Überzeugung bringt, das hätte ihnen geholfen. Allerdings behauptet inzwischen nicht einmal die „Manuelle Therapie“ selbst, dass sie Gelenke tatsächlich einrenken können. Das ist allerdings bei weitem nicht jedem Therapeuten bewusst. Es geht speziell beim Manipullieren lediglich um einen Reiz an das Gehirn, das spontan eine Schmerzreduktion oder größere Mobilität auslöst oder auch nicht. Dabei ist es egal, ob das vermeintlich „blockierte“ Gelenk manipuliert wird oder ein anderes, was beweist, dass es dabei nicht um ein blockieretes also festhängendes Gelenk geht. Das Gehirn selbst löst die Beschwerden und Bewegungseinschränkungen aus, nicht das Gelenk. Insofern gibt es auch keine Blockierungen obwohl Ärzte dies sehr häufig diagnostizieren.
Auch andere Manuelle Techniken können bislang keine Änderungen im Gewebe, die eine Besserung versprechen, nachweisen.
MT ist durchgängig eine passive Anwendung, bei der der Patient nicht aktiv beteiligt ist. Der Patient benötigt dafür immer einen Spezialisten der diese Anwendung ausführt und meint diese Behandlungsmethode hätte ihm geholfen. Da die Besserungen aber in aller Regel nicht dauerhaft sind, kommen sie in aller Regel natürlich wieder zu demselben Therapeuten. Dieser freut sich über einen neuen Stammkunden und der Patient über eine scheinbare Besserung. Tatsächlich gibt es Behandlungsansätze die entschieden langfristiger wirken, allerdings meist auch länger benötigen um diese Wirkung entfalten zu können. Auch ist die Mitarbeit des Patienten zwingend erforderlich, was viel anstrengender ist als passiv ein paar mal etwas mit sich machen zu lassen. Auch wird bei solchem Vorgehen gerne übersehen, dass die aller meisten Beschwerdeursachen der orthopädischen Patienten in der Physiotherapie multifaktoriell sind. Also nicht einfach eine ganz bestimmte körperliche Ursache haben. Das wird häufig nicht einmal von den Therapeuten richtig erkannt die „Ganzheitlichkeit“ auf ihre Fahnen schreiben. Aber genau diese extrem häufige multifaktoriellen Beschwerdeursachen haben eine massive Evidenz, also wissenschaftliche Beweislage. In der Folge gehen die in Deutschland üblichen Behandlungen die Patientenbeschwerden von der falschen, also nicht ursächlichen Problematik an. - Osteopathie
Hier verweise ich auf einen separaten Beitrag von mir.
Die Evidenzorienterte Physiotherapie kann eindeutig belegen, dass nur die aktive Teilnahme der Patienten nachhaltige Besserung bringen kann und nur diese strukturelle Änderung im Körper tatsächlich auslöst. Je länger eine therapeutische Betreuung andauert, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Patientenproblematik chronifiziert. Stichwort Dauerpatienten!
Unbedingt müssen die Patienten lernen wie sie sich selbst behandeln können. Die Zahl der Behandlungseinheiten sollen eher gering gehalten werden und am besten zeitlich etwas weiter auseinander liegen, damit die Patienten auch Zeit haben das gelernte anzuwenden und Wirkung erzeugen können.
Unser ganzen Heilmittelwesen ist aber anders ausgerichtet und fördert Abhängigkeiten der Patienten. Auch sind Dauerpatienten weniger aufwendig in der Behandlung dafür aber lukrativer. Die Vergütung durch die Krankenkassen ist so knapp bemessen, dass nur Praxisinhaber die Glück mit den Praxisräumen hatten, äußerst effektiv arbeiten und zuverlässig einen randvollen Terminplan haben, einigermaßen wirtschaftlich über die Runden kommen können. Dauerpatienten sind hier eine echte Hilfe um die eigenen Einkünfte zu stabilisieren.
Arbeitet man aber nach der Evidenz, also wirksam, dann hat man einerseits mehr Aufwand und arbeitet daran, dass die Patienten bald den Therapeuten nicht mehr benötigen. Das kann schnell zu wirtschaftlichen Problemen fürhren.
Was bringt den Therapeuten um Lohn und Brot?
Es ist Gesundheit und der Tod!
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